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Annick Eimer

Wissenschaftsjournalistin // Science Journalist

REPORTAGE

Kizibas Hochschulabsolventen // Kiziba’s graduates

Nur sechs Prozent aller Geflüchteten weltweit haben Zugang zu Hochschulbildung. Ganz besonders erschwert ist der Zugang zu Bildung für diejenigen, die in Flüchtlingslagern leben. Im Kiziba-Flüchtlingscamp in Ruanda haben junge Menschen nun die Möglichkeit, an einem amerikanischen College zu studieren.

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An Kiziba führt kein Weg vorbei. Der Weg endet dort. Vier bis fünf Stunden braucht man von der Hauptstadt Kigali bis hierher, bis zu dem ältesten und größten Flüchtlingslager in Ruanda. Die unbefestigte Straße aus dem für die Subtropen typischen rotem Laterit-Boden schlängelt sich von einem grünen Hügel zum nächsten. In Sichtweite glitzert der riesige Kivu-See, der vor allem für das Methangas bekannt ist, das auf seinem Grund lagert und das droht, irgendwann einmal an die Oberfläche zu schießen. Durch den See zieht sich aber auch die Grenze zur Volksrepublik Kongo. Die Grenzen zwischen beiden Ländern auf festem Boden befinden sich am südwestlichen und nordöstlichen Ende des Sees. Über sie kam ein Großteil der Menschen, die jetzt in Kiziba leben. Kiziba wurde 1996 errichtet, als Hunderttausende Kongolesen vor dem Bürgerkrieg in ihrem Land Zuflucht in Ruanda suchten. Ein Schlagbaum versperrt den Eingang zum Lager. Dahinter sieht es aus wie in einem kleinen Dorf. Kleine Hütten säumen die autofreien Wege, auf denen Kinder spielen. Hier und dort stehen ein paar Maispflanzen vor den Hütten. Nach wenigen Metern trifft man rechter Hand auf mehrere gemauerte Flachbauten, umzäunt von blau gestrichenen Geländern. Hier noch ein Eingangstor, neben dem in einem kleinen Häuschen ein Wachmann sitzt. Am Tor hängt ein Schild: „Kepler – New Pathways to Employment“. 

Kepler, benannt nach dem deutschen Astronomen Johannes Kepler, der trotz bescheidener familiärer Verhältnisse studierte und ein berühmter Gelehrter wurde, ist eine Nichtregierungsorganisation (NGO). Gemeinsam mit der Southern New Hampshire University (SNHU), der größten Non-Profit-Universität der USA, verhilft sie Studierenden aus ärmsten Verhältnissen zu einem Hochschulabschluss. Kepler stellt Räume, Lehrmaterialien und Lehrende, die SNHU das Online-Programm, mit dem die Studierenden einen amerikanischen Bachelor erlangen können.

Es ist Mittagszeit, geschäftiges Treiben auf dem Gelände. Gerade gab es Mittagessen: Reis, schwarze Bohnen, Kochbananen. Tische mit großen Gastronorm-Behältern sind auf der Veranda aufgebaut. Junge Menschen sitzen an den Tischen, die unter den Vordächern vor den beiden Flachbauten stehen. Sie essen, unterhalten sich oder schauen konzentriert auf ihre Laptops. Aus den offenen, mit bunten Gardinen verhangenen Fenstern der vier Lehrräume dringt Gemurmel.

In einem der Klassenräume unterrichtet Gloria Ufitinema. Die 24-Jährige trägt einen olivfarbenen Jumpsuit, Ballerinas und ein rosafarbenes Tuch um die Schultern. Heute steht auf dem Lehrplan die Vorbereitung auf ein sogenanntes Job Shadowing. Alle Studierenden sollen ein Tag jemandem bei der Arbeit über die Schulter schauen, eine Art Mini-Praktikum.

„Was ist wichtig beim Job Shadowing?“, fragt Gloria.

„Pünktlichkeit“, antwortet eine Studentin. Alle Hände erheben sich und schnipsen mit den Fingern.

„Was ist wichtig beim Job Shadowing?“, fragt Gloria wieder.

„Ich muss den richtigen Ansprechpartner finden“, antwortet eine andere Studentin. Wieder Fingerschnipsen.

„Was ist wichtig beim Job Shadowing?“, fragt Gloria noch einmal.

„Angemessene Kleidung“, lautet die dritte Antwort.

Und wieder gehen alle Hände hoch und lassen die Ringfinger auf die Handballen knallen.

Das Fingerschnipsen ist bei Kepler ein Zeichen für Anerkennung. Es ist die Antwort auf jeden guten Beitrag. Gloria erklärt die nächsten Aufgaben. Die Studierenden sollen geeignete Unternehmen suchen. Sie sollen den richtigen Ansprechpartner ausfindig machen und eine E-Mail verfassen, mit der man sich für ein Praktikum bewirbt. „Gibt es noch Fragen?“, fragt Gloria. Nach kurzem Zögern meldet sich ein Student: „Ich habe eine Frage. Hier in Kiziba gibt es ja gar nicht so viele Unternehmen. Können wir uns auch außerhalb bewerben?“ „Natürlich dürft ihr das“, antwortet Gloria. Es folgt ein langer Moment der Stille. Diese Information müssen sie alle erst einmal verarbeiten. Nach einem kurzen Augenblick hebt der gleiche Student noch einmal die Hand und fragt, sichtlich verunsichert: „Aber das kostet ja Geld, die Fahrt kann ich mir nicht leisten.“

Der Kurs, den Gloria gerade betreut, ist Teil vom „Associate Program“, eine Art Vorstudium, das auf ein Bachelor-Studium vorbereitet. Bertin Mutangana ist einer der Studierenden in Glorias Klasse. Er sitzt vor dem Klassenraum und arbeitet an einer Projektaufgabe. Seine Eltern kommen aus der Demokratischen Republik Kongo, wie die meisten hier. Er ist, wie viele andere auch, in Kiziba geboren und aufgewachsen. Vom Kepler-Programm hat er über Aushänge im Camp erfahren. „Das Auswahlverfahren war sehr schwer“, sagt er. Vor allem das Englisch hat ihm zu schaffen gemacht. Die Muttersprache seiner Eltern ist Kisuaheli, die Sprache, die am weitesten verbreitet ist in Ostafrika. In Kiziba aber haben sie begonnen, Kinyarwanda zu sprechen, das neben Englisch und Französisch Amtssprache in Ruanda ist. 60 Studierende nimmt Kepler pro Jahr auf. Nur einer von 100 Bewerbern schafft das Aufnahmeverfahren. Bertin gehörte dazu.

„Viele unserer Studierenden finden das Aufnahmeverfahren sehr anspruchsvoll“, sagt Stella Bonnard. Der 28-Jährige leitet die Kepler-Außenstelle in Kiziba. „Wir müssen sicherstellen, dass wir nur diejenigen aufnehmen, die in der Lage sind, den Weg, den wir ihnen ermöglichen, auch zu gehen.“ Das Aufnahmeverfahren findet online statt und besteht aus einem Kognitions- und einem Englisch-Test. „Unsere Studierenden müssen gut Englisch können, weil sie am Ende in der Lage sein müssen, ein amerikanisches Studium abzulegen“, sagt Stella. 

Die Frage, ob das Praktikum auch außerhalb des Camps stattfinden kann, kommt nicht von ungefähr. Viele der Studierenden verlassen das Lager nur selten. Für das Praktikum stellt Kepler ein Budget für Fahrten zur Verfügung. Trotzdem ist der Schritt aus dem Camp, womöglich in eine große Stadt, riesig. Die meisten sind in Kiziba geboren, viele kennen die Welt jenseits der Zäune kaum. Kiziba ist ein großes Dorf, in dem es alles gibt. Winzige Läden, in denen man alles fürs tägliche Leben kaufen kann, eine Krankenstation, eine Apotheke, mehrere Schulen. Rund 15 600 Menschen leben hier auf rund 44 Hektar Land. 60 Prozent der Menschen sind jünger als 24 Jahre. Betrieben wird das Camp vom Ministerium für Notfallmanagement gemeinsam mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, UNHCR. Geflüchtete in Ruanda dürften arbeiten, aber es ist sehr schwierig für sie, einen Job zu finden, und das Camp ist sehr weit ab vom Schuss. Der nächste Ort, Kibuye, hat 50 000 Einwohner, ist 30 Kilometer entfernt und die Straßen dorthin sind schlecht.

Internet und Mittagessen

Joelle Ingabire arbeitet ebenfalls an einem Rechner. Auf dem klebt ein großer SNHU-Aufkleber. Sie trägt die Haare zu kurzen Dreadlocks gefilzt, um den Hals eine Kette mit einem Anhänger, der die Form des afrikanischen Kontinents hat. Im ersten Anlauf hat sie die Aufnahmeprüfung nicht bestanden. „Ich habe dann noch einmal richtig viel gelernt, ich wollte es unbedingt schaffen“, sagt sie. Jetzt steht sie kurz vor dem Bachelor-Studium, arbeitet gerade an einer größeren Projektarbeit. Sie ist so oft sie kann auf dem Kepler-Gelände. „Manchmal nehme ich aber den Rechner mit nach Hause, um dort weiter zu lernen.“ Den Rechner stellt die NGO. Wenn Joelle ihr Studium beendet, darf sie ihn behalten.

Die Infrastruktur auf dem Campus sei wichtig, erklärt Stella. Hier gibt es funktionierendes Internet und mittags eine Mahlzeit. Die wird von allen genutzt und ist ein wichtiger Grund, auf den Campus zu kommen, denn die Camp-Bewohner sind von den Lebensmittelausgaben des Flüchtlingshilfswerks abhängig und die sind knapp bemessen. Es gibt einen Rückzugsraum für Frauen. Dort können sie duschen und sich in einem Stockbett ausruhen. Den nutzen viele Schwangere, aber auch diejenigen, die zu Hause stark eingespannt sind, weil sie als Frauen traditionell den Haushalt alleine bestreiten müssen. Nach Einbruch der Dunkelheit werden die Studentinnen von Wachmännern nach Hause gebracht. Im Camp gibt es immer wieder Unruhen und Rivalitäten. 2018 gab es mehrfach Zusammenstöße zwischen Polizei und Camp-Bewohnern, als die Lebensmittelrationen gekürzt wurden, weil dem Flüchtlingshilfswerk das Geld ausging. Elf Menschen starben dabei.

Wie auch Joelle kommt Bertin zum Campus, wann immer er kann. Eigentlich hat er schon einen Job. Er arbeitet als Sportlehrer in der Schule vis-à-vis. Studiert hat er dafür nicht. Er hat seinen Schulabschluss an einer privaten Schule außerhalb des Camps gemacht und ist dann Lehrer geworden. Ein typischer Werdegang, erklärt Stella. Für die besten Schüler gibt es manchmal in umgebenden weiterführenden Schulen Stipendien, was zur Folge habe, dass das Niveau der Schule im Camp sinke. Die weiterführende Schule im Camp, die von UNHCR und Save the Children gemeinsam betrieben wird, habe außerdem große Schwierigkeiten, Lehrkräfte zu finden. Keiner will so weit weg arbeiten.

Die erste Aufgabe der Kepler-Lehrkräfte ist, ihre Studierenden so fit zu machen, dass sie das Studium aufnehmen können. Dann begleiten sie sie während des Studiums. Die Betreuung ist engmaschig und der Fortschritt der Studierenden wird genau dokumentiert. Erst machen alle den Associate, dann können sie zwischen drei verschiedenen Bachelors wählen. Die Online-Kurse werden von der SNHU angeboten, sie vergibt am Ende auch die Abschlüsse. Der Erfolg kann sich sehen lassen: 159 Absolventen aus Kiziba gibt es bereits. Über 90 Prozent haben einen Job gefunden, studieren an einer Hochschule weiter oder sind in ihr Heimatland zurückgekehrt. 

Der Hauptsitz der Organisation ist in Kigali, dort startete die Organisation, die aus einer anderen NGO hervorgegangen ist, 2013 ihre Arbeit. Die Außenstelle in Kiziba gibt es seit 2015. Die Studierenden am Hauptcampus sind keine Geflüchteten, sehr viele kommen aber aus sehr armen Verhältnissen. Denn Armut gibt es immer noch viel, auch wenn Ruanda als das wirtschaftliche Wunderkind in Ostafrika gilt. Die Arbeitslosigkeit sinkt seit Jahren, auch wenn sie immer noch bei rund 15 Prozent liegt, das Bruttoinlandsprodukt steigt und immer mehr Menschen in dem Land, das von kleinbäuerlichen Strukturen geprägt ist, finden Arbeit im Dienstleistungsbereich und im produzierenden Sektor. Die Bevölkerung ist jung – jeder dritte Rwandese ist jünger als 15 Jahre. Wie in vielen afrikanischen Ländern ist die universitäre Bildung in der Regel denjenigen vorbehalten, die die Studiengebühren bezahlen können. Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs finden viele nach dem Abschluss keinen Job. Die Universitäten lehrten nicht das, was von den Arbeitgebern erwartet wird, hört man immer wieder.

Akribische Arbeit am Curiculum 

Und genau da setzt Kepler an. „Employability“, Beschäftigungsfähigkeit, ist ein Begriff, den man hier allerorts hört. Jean Pierre Mutambarungu ist seit Gründung von Kepler an Bord. Er ist Vizekanzler für Lehre und entscheidet demnach darüber, was man bei Kepler lernt. Er berichtet aus der Anfangszeit: „Wir haben mit 50 Studierenden, einem Klassenraum und einem Büro gestartet, das war wie ein Start-up“. Von Anfang an ging es darum, die Studierenden nicht nur fit für das Studium an der SNHU zu machen, sondern das zu vermitteln, was sie für den Arbeitsmarkt brauchen. Dafür mussten auch Jean Pierre und seine Kollegen Erfahrungen sammeln: „Wir haben erst einmal mit dem Job Shadowing bei Start-ups begonnen. Wenn unsere Studierenden dort gewesen sind, haben wir bei den Unternehmen nachgefragt. ‚Hat das gut geklappt? Haben unsere Studierenden das mitgebracht, was ihr braucht? Was müssen wir auf den Lehrplan nehmen?‘“ Die Antworten ließen sie direkt ins Curriculum einfließen. 

Das hat sich ausgezahlt. Die Zusammenarbeit mit den Unternehmen läuft gut. Sie melden sich immer häufiger selber, wenn sie Praktikanten brauchen oder sogar eine Stelle für Absolventen haben. Heute arbeitet Kepler mit rund 150 Unternehmen zusammen. Diese schicken regelmäßig Vortragende zu Kepler und bei Bewerbertagen, die Kepler organisiert, lernen sich Unternehmen und Studierende kennen. Nicht selten werden direkt vor Ort die ersten Bewerbungsgespräche geführt. 

Auch die SNHU betrat damals Neuland: „Kepler war unser erster Partner, mit dem wir Geflüchteten ein Studium ermöglicht haben“, sagt Rachael Sears, Vizepräsidentin an der SNHU und zuständig für das Programm. Heute arbeiten sie nach diesem Modell mit NGOs in sechs Ländern zusammen. Die Studierenden können zwischen drei Bachelor-Studiengängen wählen, die genau so auch US-Studierenden angeboten werden. Jean Pierre berichtet, dass sie nur manchmal die Case Studies anpassen müssen, damit sie zu dem Erfahrungshintergrund der ruandischen Studierenden passen: „Es gab zum Beispiel ein Projekt zu Obama Care. Das haben wir dann um Module über das Gesundheitssystem in Ruanda ergänzt.“

Stella und Gloria wissen, was studieren bei Kepler bedeutet. Sie sind beide Kepler-Absolventen auf dem Kigali-Campus. Stella gehört zur ersten Kohorte, die 2013 ihr Studium aufgenommen hat. Er hat einen Bachelor in Communication gemacht und dann noch an der University of York einen Master in Humanitarian Affairs abgeschlossen. „Kepler hat mir eine ziemlich gute Lernreise ermöglicht“, sagt er lachend. Gloria hat ihren Bachelor 2018 abgeschlossen, hat zwischendurch woanders gearbeitet und jetzt bei Kepler „den Job gekriegt, den ich liebe“. Neben dem Unterrichten ist ihre Aufgabe, den Kontakt zu den Unternehmen zu halten. Stella, Gloria und ihre Kollegen leben in Kigali. Sie kommen jeden Sonntagabend in einem Kleinbus gemeinsam nach Kiziba, Freitagabend geht es zurück nach Hause. Ihre Arbeit wird gebraucht. In den letzten Jahren hat die Zahl der Geflüchteten in Kiziba stark abgenommen, viele Kongolesen sind in ihre Heimat zurückgekehrt. Doch dort nehmen die Spannungen wieder zu. Die Lage ist kompliziert. Es gibt Kämpfe zwischen Rebellengruppen und Milizen, die der kongolesischen Armee treu sind. Die kongolesische Regierung hat Ruanda wiederholt vorgeworfen, die Rebellen zu unterstützen, die weite Gebiete im Osten des Kongos unter ihre Kontrolle gebracht haben. UN-Experten sagen, sie hätten Beweise dafür, dass Ruandas Armee an der Seite der Rebellengruppe kämpfe. Ruanda weist die Anschuldigungen zurück und wirft stattdessen der kongolesischen Armee vor, Dörfer auf ruandischem Gebiet entlang der Grenze beschossen zu haben. In Kiziba rechnet man mit der Ankunft neuer Geflüchteter. 

Bertin will die Zulassung zum Bachelor mit dem Schwerpunkt Logistik schaffen. Was danach kommt, weiß er noch nicht. Joelle will im Anschluss an das Studium in Kiziba ihr Business starten, einen Handel für Schuhe und Kleidung. Ihr Unternehmen soll wachsen. Sie will Mitarbeiter einstellen, Filialen außerhalb des Camps eröffnen.

Bei Kepler hat man neue Pläne. Jean Pierre und seine Kollegen haben den Arbeitsmarkt studiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass man in Ruanda Projektmanager braucht. Nun haben sie einen eigenes Bachelor-Programm aufgelegt und akkreditieren lassen und auf dem Campus in Kigali das Kepler College gegründet. „So können wir noch genauer auf die Bedürfnisse unserer Studierenden und der Arbeitgeber in Ruanda eingehen“, sagt Jean Pierre. Ist das Programm erfolgreich, werden sie es auch in Kiziba anbieten. //

Only six percent of all refugees worldwide have access to higher education. Access to education is particularly difficult for those living in refugee camps. In the Kiziba refugee camp in Rwanda, young people now have the opportunity to study at an American college.

Erschienen in / published in

DUZ – Magazin für Wissenschaft und Gesellschaft, 03/2024

© Annick Eimer


REPORTAGE

Die Weitermacher

Der russische Angriffskrieg erschwert den Alltag an den ukrainischen Hochschulen. Trotzdem herrscht Aufbruchstimmung. Auch weil es Menschen wie die Rektorin Tetyana Nagornyak gibt, die fest daran glauben, dass in den Hochschulen die Zukunft des Landes liegt. Ein Ortsbericht aus Kyiv und Winnyzja.

Kateryna Lapchevska, Anna Raksha und Dariya Kryvonos sitzen in einem kleinen Seminarraum im Hauptgebäude der staatlichen Wassyl-Stus-Universität Donezk. Sie sind spät dran. An diesem Tag haben mal wieder die Alarmsirenen geheult. Vier lange schrille Töne, durch Lautsprecher in der Stadt, geechot von Hunderten Handys, auf denen die App „тривога!“ installiert ist. Fast jeder in der Ukraine hat diese App, die schrillt, wenn die Gefahr vor russischen Bomben- oder Drohnenangriffen besteht. Kateryna Lapchewska war zu Hause, als es losging, Anna Raksha bereits an der Uni und Dariya Kryvonos saß in der Straßenbahn. Kateryna Lapchevska wartete den Alarm zu Hause ab. Dariya Kryvonos und Anna Raksha trafen sich in dem Bunker, den sich die Hochschule mit einem Einkaufszentrum in der Nähe teilt. Nach knapp 40 Minuten erklingen die erlösenden zwei Sirenen-Töne, die das Ende des Alarms kennzeichnen.


Kateryna Lapchevska ist 19 Jahre alt und im vierten Jahr ih- res Jura-Studiums, Anna Raksha ist 20 und studiert seit vier Jahren Politikwissenschaften auf Bachelor und Dariya Kry- vonos, ebenfalls 20 Jahre alt, hat das zweite Jahr ihres Eng- lisch- und Deutsch-Studiums abgeschlossen. Die drei sind momentan nur selten an der Hochschule. Anna Raksha, die auch Studierendenvertreterin ist, sagt: „Wir Studierende haben drauf gedrängt, dass wir viel online studieren kön- nen, zu Hause fühlen wir uns sicherer.“ Obwohl sie sich an die ständigen Alarme ein Stück weit gewöhnt haben, denn eigentlich ist es seit vielen Wochen relativ ruhig gewesen. Kateryna Lapchevska sagt: „Es ist normal geworden. Aber immer dann, wenn etwas passiert, von dem wir damit rech- nen müssen, dass es die Russen verärgert, habe ich Angst.“ Heute war das der Fall: Es ist der 22. September, am Vortag gab es einen Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine. 200 ukrainische Gefangene sind im Austausch für den prorussischen Politiker und Oligarchen Viktor Medwedtschuk, einen Vertrauten von Kremlchef Wladimir Putin, freigelassen worden. Unter den Freigelassenen sind auch Kommandeure des Asov-Regiments, die monatelang im Asov-Stahlwerk in Mariupol ausharrten und den Russen trotzten. Einer von ihnen kommt aus Winnyzja und ist Kommilitone der drei Studentinnen. „Mit der Freilassung der Gefangenen kommen wir dem Sieg einen Schritt näher und deswegen müssen wir mit der Rache der Russen rechnen“, sagt Kateryna Lapchevska, die seit der Kindheit mit ihm be- freundet ist und sich auf seine Rückkehr freut.

TARNNETZE – VERDUNKLUNGSFOLIEN
Die Wassyl-Stus-Universität Donezk, an der die drei studieren, befindet sich, anders als ihr Name es nahelegt, nicht in Donezk, sondern in Winnyzja, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz in der West-Ukraine. In die 400 000 Einwohner-Stadt ist die Hochschule 2014 umgezogen, nachdem Donezk von prorussischen Milizen eingenommen worden war. Winnyzja ist eine ruhige, eher verschlafene Kleinstadt. Hauptsehenswürdigkeit ist ein alter Wasserturm, der am Rande eines kleinen Parks steht. In der Innenstadt gibt es ein paar Gebäude aus der Jahrhundertwende. Doch nach wenigen Gehminuten befindet man sich an großen Ausfahrtstraßen, gesäumt von sozialistischen Betonbauten. An so einer Ausfallstraße befindet sich auch das Hauptgebäude der Universität, ein schmuckloser grauer Betonbau, fünfgeschossig. Das Gebäude war mal eine Fabrik. Bevor es zum Uni-Gebäude umfunktioniert wurde, wurden hier künstliche Diamanten hergestellt. Dass Krieg herrscht, zeigt auch das Gebäude: Der Eingangsbereich ist mit Sandsäcken verbarrikadiert und mit Tarnnetzen kaschiert, die nur zu einer Tür den Zugang offen lassen. An den Fenstern hängt Verdunklungsfolie. In der halbdunklen Eingangshalle hängen die Bilder der Helden: Alumni und Studierende der Universität, die der ukrainischen Armee zu militärischen Erfolgen verholfen haben. Es sind Bilder von bewaffneten Männern, die in Militärkleidung posieren. Unter ihnen ist auch der jetzt freigelassene Kommilitone aus dem Asov-Regiment. Den lebenden Helden gegenüber hängen an einer messingfarbenen Gitterwand die Bilder derjenigen Studierenden, die im Krieg ihr Leben verloren haben. Bisher sind das sechs junge Männer.

Maßgeblich für die Geschicke der Hochschule und das Wohlergehen der Studierenden verantwortlich ist die Vize-Rektorin für Studium und Lehre, Prof. Dr. Tetyana Nagornyak. Die 49-Jährige sitzt an ihrem Schreibtisch in einem großen Büro in der vierten Etage. Sie trägt eine dunkle Bluse mit Spitzenbesatz und knallroten Lippenstift, die dunkel gefärbten Haare sind halblang geschnitten. Nagornyak ist ein herzlicher Mensch. Besuchern schüttelt sie erst die Hand und umarmt sie dann. Über die gefallenen Studierenden ihrer Hochschule sagt sie mit Tränen in den Augen: „Das sind die Verluste, das ist unser Braindrain. Und je länger dieser Krieg andauert, desto mehr Menschen werden ihm zum Opfer fallen.“ Dann atmet sie kurz tief durch und lächelt wieder. Nagornyak, die Mutter einer erwachsenen Tochter ist, hat viel zu tun. Morgen in aller Herrgottsfrühe wird sie zu einer Dienstreise aufbrechen. Sie muss nach Warschau, mit dem Auto. Flüge gibt es nicht, die Bahnen sind meist restlos ausgebucht. Sie wird am Steuer sitzen, ihre Kollegin, die das Dezernat Internationalisierung leitet, auf dem Beifahrersitz. Fast 900 Kilometer müssen die beiden zurücklegen. Sie besuchen Studierende, die ins Nachbarland geflüchtet sind und von der Universität Warschau und der Warsaw School of Economics aufgenommen wurden. „Wenn sie nicht hier sein können, dann gehe ich sie besuchen“, sagt Nagornyak und lacht. Die Studierenden haben eine Tagung organisiert, an der sie teilnehmen wird. Es wird um die Zukunft der Ukraine nach dem Krieg gehen. Und sie will ein Memorandum of Understanding mit der Universität Warschau unterzeichnen, um die Zusammenarbeit der beiden Hochschulen zu festigen. Normalerweise dauert die Fahrt in die Hauptstadt des Nachbarlandes circa zehn Stunden. Morgen werden die beiden Frauen wahrscheinlich deutlich länger brauchen, denn das Passieren der Grenze läuft in Kriegszeiten nicht mal eben so. „Das macht nichts. Ich bin eine gute Autofahrerin“, sagt Nagornyak, tut, als ob sie ein Lenkrad in den Händen hält und lacht wieder. 

Von Donezk nach Winnyzja
Tetyana Nagornyak ist Politikwissenschaftlerin, lehrt auch noch und betreut einige Doktorandinnen. Die Geschichte ihrer Hochschule ist turbulent, verbunden mit Namenswechseln und vor wenigen Jahren einem überstürzten und unfreiwilligen Umzug. Die Universität wurde 1937 als Staatliches Pädagogisches Institut gegründet, in Donezk, einer Stadt im Südosten der Ukraine, die mehr als doppelt so viele Einwohner hatte wie Winnyzja, weit weg von vom heutigen Standort der Hochschule. In den 1960er-Jahren entstanden die Fakultäten Biologie und Physik und aus dem Institut wurde eine Universität, die Staatsuniversität Donezk. In den 1970ern und 1980ern zählte sie zu den Spitzenhochschulen der Sowjetunion, residierte in einem Neubau mit Laborräumen, Büros und Hörsälen, der nach damaligem Standard top war. Bilder aus dieser Hochzeit hängen heute im Keller der Hochschule. Große Laborräume, volle Hörsäle und Studierende bei Sportfesten sind darauf zu sehen. In die internationale Presse schaffte sie es allerdings mit einem traurigeren Bild: Im Juli 2014 nahmen prorussische Bewaffnete den Campus in Donezk ein, um ihn als Stützpunkt zu nutzen und die Wohnheime in Kasernen zu verwandeln. Das Foto, das um die Welt ging, zeigte Studierende, die die Flagge der Hochschule, die vor der Uni an einem Fahnenmast hing, runterholten, im Hintergrund russische Panzer. Das Zeichen, das sie damals setzten: Unsere Hochschule kriegt ihr nicht. Studierende, Wissenschaftler und das administrative Personal flohen gen Westen und Norden. Viele zog es nach Kyiv, Hauptstadt und ukrainische Wissenschaftsmetropole. Die meisten wussten nicht, wie es für sie weitergehen sollte. Die Fahne hängt noch heute in der Hochschule, im Studierenden-Keller, der Treffpunkt, Arbeitsplatz, Veranstaltungsort und manchmal auch Bunker ist. Dass die Universität heute noch existiert, ist maßgeblich Tetyana Nagornyak zu verdanken. Darauf ist sie sichtlich stolz. Sie erzählt gerne vom Umzug. Sie war ebenfalls geflohen, wollte ihre Universität aber nicht so einfach aufgeben. In Winnyzja konnte sie die lokalen Bildungsbehörden davon überzeugen, ihr zu- mindest ein Büro mit Telefon zur Verfügung zu stellen. „Von da an habe ich alle angerufen, von denen ich die Nummer hatte. Studierende, Lehrende, Wissenschaftler. Ich habe al- len gesagt, sie sollen nach Winnyzja kommen. Und dann ha- ben wir weitergemacht.“ Immerhin fast 70 Prozent der rund 5000 Universitätsangehörigen konnte sie für einen Umzug gewinnen. „Anfangs ging es vor allem darum, für alle Wissenschaftler und Verwaltungsangestellten Wohnungen zu finden und Gebäude für die Hochschule“, erzählt Nagornyak. „Die Studierenden sind nicht alle mitgekommen, vie- le sind im Donbas geblieben oder mit ihren Familien in die anliegenden Regionen geflüchtet. Aber studiert haben sie trotzdem noch bei uns – online.“ Das war 2014, lange vor Co- rona, lange bevor sich andere Hochschulen in der Ukraine und anderswo mit digitaler Lehre beschäftigten. Nagornyak sagt: „Dass wir uns sehr früh mit Online-Lehre beschäftigt haben, davon profitieren wir auch heute noch.“

VOM HÖRSAAL IN DEN LUFTSCHUTZBUNKER
2016 wurde dem Hochschulnamen dann nach Abstimmung unter den Mitarbeitenden der Name des Dichters, Publizisten, Freiheitskämpfers und Alumnus der Universität
Wassyl Stus hinzugefügt. Die Umbenennung in Wassyl-Stus- Universität sollte einen Neuanfang markieren. Vom Umzug hat sich die Hochschule trotzdem noch nicht ganz erholt. Da sie keine eigenen Immobilien hat, muss sie Miete für die vier über das Stadtgebiet verteilten Gebäude zahlen. Die Kosten belaufen sich auf rund 20 000 Dollar im Monat, ein immenser Posten. Die Labore sind immer noch dürftig ausgestattet, bestückt mit Geräten, die von Unternehmen und Hochschulen aus dem Ausland gespendet wurden. Die Uni besitzt außerdem keine eigenen Wohnheime. Sie muss jedes Jahr bei den anderen Hochschulen in der Stadt um Schlafplätze für ihre Studierenden betteln. Zu dieser schwierigen Ausgangslage kommt nun noch der Krieg hin- zu. Es gibt noch weniger Wohnheimplätze, weil viele Wohnheime mit Geflüchteten aus dem Osten der Ukraine belegt sind. Große Herausforderung für dieses Wintersemester ist außerdem eine neue Vorgabe des Ministeriums: In den Hochschulgebäuden dürfen sich nur so viele Menschen auf- halten, wie es Plätze im Luftschutzbunker gibt. Die Keller der Wassyl-Stus-Universität würden sich zwar als Schutzbunker eignen, wurden aber von den Behörden nicht abgenommen. So müssen bei Alarm alle in einen Bunker in der Nähe, den sie sich mit einem Einkaufszentrum teilen. 600 Plätze hat der Bunker, 200 bis 300 davon stehen der Universität zu, das muss in den Stundenplänen berücksichtigt werden.
STUDIEREN AN DER FRONT
Die größte Aufgabe für Nagornyak derzeit ist aber, ihre Schäfchen beisammenzuhalten: Viele Studierende haben das Land verlassen. Wie viele das genau sind, weiß die Hochschule nicht. Einige sind bei Familienmitgliedern auf dem Land untergekommen, andere haben sich von der Ar- mee rekrutieren lassen, manche davon sind derzeit an der Front. Alles in allem sind die Studierendenzahlen nicht zu- rückgegangen. Aber rund 30 Prozent der Studierenden sind nicht vor Ort. Die Vize-Rektorin will sie an der Hochschule halten, mit Online-Lehre und Besuchen. „Wir sind eine große Familie“, sagt Nagornyak.
Von dem Wissen über Online-Lehre, das sie seit 2014 gesammelt hat, profitiert die Hochschule heute. Wie vielerorts finden Vorlesungen und Seminare über Zoom statt, hier geht man aber auch deutlich weiter: Asynchrones Ler- nen ist in fast allen Fächern möglich. Nagornyak zeigt ihren Bildschirm, auf dem Google Classroom geöffnet ist. Viele Reihen von Ordnern und Dokumenten sind da zu sehen, versehen mit Namen. „Meine Studierenden erhalten jeden Tag neue Aufgaben von mir“, erklärt sie. „Ich kann genau sehen, wie weit sie sind, und korrigiere jeden Tag die Aufgaben.“ Die asynchronen Lehrinhalte nutzen vor allem diejenigen, die beim Militär sind. Einige von ihnen sind direkt an die Front geschickt worden. Über sie sagt Nagornyak: „Wir unterstützen sie, indem wir ihnen ermöglichen, ihr Studium fortzusetzen. Sie verteidigen die Freiheit der Ukraine und kriegen Credit Points für ihre Studienleistungen.“
Neben der Lehre unter erschwerten Bedingungen muss sie aber auch zusehen, dass sich ihre Hochschule weiterentwickelt. Denn das Hochschul- und Wissenschaftssystem wäre auch ohne Krieg noch in einem wenig solidem Zustand. Der Krieg, darauf legen hier alle Wert, hat nicht erst 2022, sondern schon 2014, nämlich mit der Einnahme des Donbass und der Heimatstadt ihrer Universität, begonnen. Er hat nicht nur die Wassyl-Stus-Universität, sondern alle Hochschulen und das Wissenschaftssystem der Ukraine zu einem Zeitpunkt des Umbruchs getroffen. Um zu verstehen, was die ukrainischen Hochschulen heute beschäftigt, muss man sich die Geschichte des Systems genau anschauen. Ge- prägt ist es von den Strukturen aus Sowjetzeiten: ein zentralisiertes System, in dessen Machtzentrum das nationale Bildungsministerium steht, das über Studieninhalte und die Verteilung der Gelder entscheidet. Ein System, das fokussiert ist auf Naturwissenschaften und Technik. Geistes- und Politikwissenschaften, die der kommunistischen Propaganda untergeordnet wurden. Forschung gab es nur an der Akademie, die Hochschulen waren reine Lehranstalten. Mit der Unabhängigkeit der Ukraine in den 1990er-Jahren begann dann ein Umbau (siehe DUZ Magazin 8.2022). Die Ukraine ge- hörte zu den Ländern, die sich schnell den westlichen Wissenschafts- und Hochschulsystemen zuwendeten. In den 90ern hieß das für die Hochschulen erst einmal, ums Über- leben zu kämpfen, da sie vom Staat weitestgehend ihrem Schicksal überlassen wurden. Es verbreitete sich der Glaube an die freie Marktwirtschaft, von der man sich versprach, dass sie alles regeln würde, auch die Hochschullandschaft. Infolgedessen schossen private Hochschulen wie Pilze aus dem Boden. 2005 trat die Ukraine dem Bologna-Prozess bei, was zumindest zur Folge hatte, dass politische Diskussionen über die Rollen der Universitäten in Gang gesetzt wurden.
„Man darf aber nicht glauben, dass es einfach nur eine Frage der Zeit ist, bis Reformen greifen“, sagt Prof. Dr. Serhiy Kvit, Präsident der Kyiv-Mohyla-Akademie im Zentrum von Kyiv. „Und die Geschichte wirkt lange nach – auch in den Hoch- schulen und den Wissenschaften.“ So würde man vielerorts bis heute der Stärke in den Naturwissenschaften nachweinen. „Man muss sich dann aber vor Augen führen, warum das so war. Wir hatten zu Sowjetzeiten kein besseres Hochschul- system, sondern die Naturwissenschaften und die Technik waren finanziell gut ausgestattet, weil die Sowjets diese Fächer als ein Standbein für den Machterhalt angesehen ha- ben.“ Er nennt ein anderes Beispiel: „In der Sowjetunion war der Staat immer präsent. Das lässt diejenigen, die durch das alte System noch geprägt sind, glauben, dass der Staat in der Governance der Hochschulen auch heute noch eine Rolle spielen muss.“ Und er sagt ebenfalls: „Reformen sind schwierig. Wenn in der Ukraine ein Gesetz verabschiedet wird, heißt es noch lange nicht, dass es auch umgesetzt wird.“

EIN NOCH JUNGES HOCHSCHULGESETZ
Kvit muss es wissen. Das Hochschulgesetz des Landes hat er auf den Weg gebracht, in der Zeit, als er Bildungsminister war. Er sitzt in seinem holzvertäfelten Büro im Hauptgebäu- de der Kyiv-Mohyla-Akademie, ein klassizistischer Bau mit imposanten Säulen. Die Akademie ist eine staatliche Hoch- schule, sie gilt als die Elitehochschule des Landes und ihre Studierenden gelten als sehr politisch. Sowohl die Orange Revolution 2004 als auch die Maidan-Proteste wurden maßgeblich von den Studierenden der Akademie initiiert. Kvit ist Politikwissenschaftler, hat Journalismus an der Taras-Shevchenko-Universität in Kyiv studiert und an der Freien Ukra- inischen Universität in München in Philologie promoviert. Den Posten des Universitätspräsidenten hatte er schon ein- mal, nämlich bis 2014. Dann kam die „Revolution der Würde“, wie die Ukrainer rückblickend den Euromaidan nennen, ausgelöst durch die Studierendenproteste auf dem Maidan. Die Studierenden seien es auch gewesen, die ihn zum Forschungsminister gemacht hätten, sagt Kvit: „Das war eine verrückte Zeit. Die Protestierenden haben das Ministerium eingenommen. Sie haben mich und andere eingeladen und uns gebeten, zu skizzieren, wie wir das Hochschulsystem gestalten würden. Und dann haben sie mich zum Forschungs- minister gemacht.“ Die Übergangsregierung, die aus dieser Revolution entstand, löste sich nach nur wenigen Monaten selber auf, um Neuwahlen zu ermöglichen. In diesen Neuwahlen trat Kvit als Mitglied der Partei Block Petro Poroschenko an, wurde zum Abgeordneten in die Werchowna Rada, das ukrainische Parlament, gewählt und zum Minister für Bildung und Forschung ernannt.
Für die Reformen, die er als Minister anstieß, erhält er bis heute viel Anerkennung in der Hochschul- und Forschungslandschaft im In- und Ausland. Diese Reformen waren im Wesentlichen: Vorantreiben des Bologna-Prozesses, Vorantreiben der Hochschulautonomie, Etablierung einer Agentur für Qualitätssicherung im Hochschulwesen (NAQA, National Agency for Higher Education Quality Assurance Ukraine), die er nach seiner Abwahl als Minister noch einige Jahre leitete. Vor allem aber sorgte er dafür, dass das Land ein Hochschulgesetz bekam. Kvit legt Wert darauf, für diese Veränderungen nicht alleine verantwortlich zu sein. So sei die Agentur
das Ergebnis der Arbeit einer Gruppe von Hochschulrektoren. Mit dem Thema Hochschulautonomie habe sich eine Gruppe von acht akademisch ausgerichteten Universitäten beschäftigt. Und das Hochschulgesetz habe schon lange be- vor er überhaupt ahnen konnte, Minister zu werden, Formen angenommen, erzählt er: „Mit dem Verfassen des Hochschulgesetzes haben wir schon 2012 begonnen. Wir haben den damaligen Bildungsminister Dmytro Tabatschnyk im Kabinett Asarow unter Druck gesetzt, eine Arbeitsgruppe einzusetzen. Da waren Akademiker drin, aber auch Studie- rende, Aktivisten, Vertreter von NGOs und Gewerkschaften. Das war sehr fruchtbar. Wir hatten also schon vor der Revolution einen Entwurf des Gesetzes. So war es nicht so schwer, es innerhalb kürzester Zeit auf den Weg zu bringen.“

IN DER BILDUNGSPOLITIK GEHT ES NUR SCHLEPPEND VORAN
Das besagte Hochschulgesetz ist immer noch in Kraft, was aber nicht heißt, dass es immer befolgt wird. Es mit Leben zu füllen, ist ein mühseliger Prozess. Eine von denen, die daran weiterarbeiten, ist die Parlamentsabgeordnete Inna Sovsun. Von 2014 bis 2016 war sie stellvertretende Bildungsministerin der Ukraine und mit 29 Jahren die bisher jüngste stell- vertretende Ministerin ihres Landes. Damals sorgte sie unter anderem dafür, dass die Ukraine dem Programm Erasmus+ beitreten konnte. Sovsun hat an der Taras-Shevchenko-Universität in Kyiv studiert, einen Master-Studiengang in Euro- pean Politics an der Universität Lund in Schweden absolviert und ging schließlich mit einem Fulbright-Stipendium an die University of California, Berkeley in den USA. Sie arbeitete an einer Promotion über das ukrainische Hochschulsystem, als sie im Sommer 2019 zu Besuch in die Ukraine kam. Da wurde sie gefragt, ob sie nicht für die liberale Holos (Stimme)- Partei kandidieren wolle. Sie stimmte zu und wurde prompt ins Parlament gewählt. Sovsun spricht perfekt Englisch mit einem leichten skandinavischen Zungenschlag: „Ob das mit der Promotion noch mal was wird, weiß ich nicht. Das wurmt mich, weil ich eigentlich schon sehr weit war“, sagt sie und verdreht die Augen. Sovsun wollte als Parlamentarierin unbedingt die Bildungsreform voranbringen. Jetzt hat sie sich aber in den Energieausschuss wählen lassen. Der Bildungsausschuss sei zu frustrierend gewesen, sagt sie. Richtig optimistisch klingt es nicht, wenn sie über die aktuelle Bildungspolitik der Ukraine spricht. Es gäbe so viel zu tun, sagt sie und nennt Beispiele: „Früher wurden die Kurse, die man innerhalb eines Studiums belegen musste, vom Ministerium vorgegeben. Dann haben wir das Gesetz so geändert, dass das nicht mehr nötig ist. Aber viele Hochschulen ha- ben das gar nicht umgesetzt. Und warum nicht? Weil es zu viele Lehrkräfte gibt und wenn es keine Pflichtkurse gäbe, wären die arbeitslos. In der Ukraine studieren 80 Prozent ei- nes Jahrgangs. Das ist viel zu viel. Es gibt zu viele schlechte Universitäten und jeder meint, studieren zu müssen.“

FORSCHUNGSMINISTER MIT PLAGIIERTER DOKTORARBEIT
Sie erzählt davon, wie schwierig es sei, das Hochschulgesetz zu entwickeln. Es ginge immer darum, dem Ministerium nicht zu viel Macht zuzugestehen, aber es sei schwierig, die richtige Balance zu finden: „Früher haben die Lehrenden den Rektor einer Hochschule gewählt. Der Minister konnte aber jeden ernennen, der mehr als 30 Prozent der Stimmen hat- te. Wir wollten diese Macht des Ministers eingrenzen. Jetzt ist das Gesetz so, dass der Rektor von den Studierenden und den Lehrenden gewählt wird, und der Minister muss den Gewählten dann ernennen. Die Frage ist nun: Ist das nicht ein Anreiz für die Rektoren, nur Dinge zu tun, die populär sind? Das wäre keine gute Voraussetzung für Veränderungen.“ Sie berichtet auch vom Alltag in der Zusammenarbeit mit dem aktuellen Bildungsminister Serhiy Shkarlet, der in der ukrainischen Wissenschaftsgemeinschaft unter anderem wegen einer plagiierten Promotion nicht wohlgelitten ist. „Als Abgeordnete habe ich ihn in vier Monaten viermal aufgefordert, einen Brief an die Europäische Kommission zu schreiben, damit wir in das Programm der Europäischen Hochschulallianzen aufgenommen werden. Da hätte er auch selber drauf kommen können, oder?“, fragt sie wütend. Für sie ist der Anschluss der Ukraine an den Europäischen Hochschulraum eines der wichtigsten Ziele.

Kvit schüttelt bei dem Namen Shkarlet ebenfalls den Kopf. Die Qualitätsagentur NAQA war unter der Leitung von Kvit maßgeblich daran beteiligt, die Plagiate des Ministers aufzudecken. Die Quittung dafür bekam Kvit im Februar dieses Jahres. Als der Krieg ausbrach, hatte die Mohyla-Akademie schon eine Weile keinen Präsidenten. Kvit entschied sich kurzerhand, auf den Stuhl zurückzukehren: „Ich habe an- fangs sogar hier übernachtet. Ich hatte das Gefühl, dass ich meine Hochschule von hier unterstützen muss.“ Die Hoch- schule wollte ihn auch als Präsidenten, nur der Minister versuchte das zu verhindern, indem er ihn einfach nicht er- nannte. Erst nach Studierendenprotesten unterzeichnete er die Ernennungsurkunde. Kvit sagt ruhig: „Wir sind mit vielen Dingen nicht einverstanden, die in unserer Regierung passieren. Aber solange Krieg ist, halten wir die Füße still.“

Derweil hat er auch genug anderes zu tun. Auf politischer Ebene kämpft Kvit weiter für mehr Hochschulautonomie. Dies sei, so meint er, die wichtigste Reform im Hochschulwesen. In seiner Hochschule muss er sich, wie auch Vize- Rektorin Nagornyak in Winnyzja, neben dem alltäglichen Ge- schäft um das Lösen neuer Probleme kümmern, die mit dem Angriffskrieg einhergehen. Und neue Kooperationen voran- treiben. Die Mohyla-Akademie hat unter anderem Kooperationen mit den Universitäten Glasgow und Gießen sowie der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Die engste Ko- operation unterhält sie mit der University of Toronto in Ka- nada. Dort haben sie ein eigenes Büro und ein Austauschprogramm für Studierende und Lehrende. Langfristig wollen sie gemeinsame Arbeitsgruppen ins Leben rufen. Kvit nennt es den „International Campus an der Universität Toronto“. Sein Ziel: „Ich wünsche mir, dass wir irgendwann einmal nicht nur für unsere ukrainischen, sondern auch für unsere kanadischen Studierenden da sein können.“ Trotz der schwierigen Lage sieht er den Krieg auch als Chance: „Krieg kann auch gut sein für eine Demokratie. Wir haben jetzt in der Uk- raine eine sehr starke Zivilgesellschaft.“ Und diese sei auch bei der zukünftigen Entwicklung der Hochschulen gefragt.

Auch in Winnyzja gibt man sich optimistisch. Aufseiten der Studierenden und in der Hochschulleitung. Studentin Anna Raksha berichtet von dem Abend für die Erstsemester, mit Musik und Aufführungen, der vor allem dazu diente, Spenden zu generieren. Fast 2000 Euro haben sie mit solchen Veranstaltungen bereits eingesammelt. Das Geld geht direkt an die Front, nämlich an die Brigade eines Kommilitonen aus der juristischen Fakultät. Ihre Kommilitonin Kateryna Lap- chevska ist Sportschützin und hat sich zur Armee gemel- det, einberufen worden ist sie noch nicht. Mit ihrem Jura- Studium will sie später einmal beim Aufbau der Demokratie in ihrem Land beitragen. Dariya Kryvonos, von der ihre Mitstudierenden sagen, dass sie ein Englisch-Talent sei, ist Lehrerin für das IELTS-Zertifikat, das viele Hochschulen im englischsprachigen Raum für die Zulassung verlangen. Ihre Online-Kurse sind kostenlos, ihre Schüler Ukrainer, die ge- flohen sind oder fliehen wollen. Alle drei engagieren sich in einer Arbeitsgruppe, die von Informatikern der Hochschule gegründet wurde und in der sie gegen russische Desinformation im Netz aktiv sind.

STUDIEREN FÜR DIE ZEIT NACH DEM KRIEG
Rektorin Tetyana Nagornyak arbeitet daran, neue Kontakte zu knüpfen, mehr denn je. Mit 33 Universitäten weltweit kooperiert die Hochschule. Mit der Vytautas Magnus University in Litauen und der Tsenov Academy of Economics in Bulgarien geben sie sogar Doppel-Diplome in Chemie und Umweltschutz und Financial Management aus. An engeren Kooperationen mit den Warschauer Universitäten arbeitet sie gerade. Ein paar Wermutstropfen bringen diese Austauschprogramme mit sich: Männliche Studierende können derzeit nicht daran teilnehmen, weil sie das Land nicht verlassen dürfen. Das müsse sich dringend ändern, findet Nagornyak. „Ich schreibe sehr viele Briefe an das Ministeri- um, an die lokale Verwaltung und an die Militärverwaltung, damit unsere Studierenden an den Programmen teilnehmen können.“ Und Braindrain gibt es trotz aller Bemühun- gen auch, nämlich vor allem in den Fächern, in denen es überall an Studierenden und Absolventinnen mangelt. Es passiert zum Beispiel nicht selten, dass Studierende der Chemie, die für fachpraktische Übungen ins Ausland ge- schickt werden, weil diese über bessere Labore verfügen, nicht mehr zurückkehren.

Die Wassyl-Stus-Universität will weiter neue Studierende anwerben, unter anderem mit neuen Master-Program- men, die in Kürze starten: Landmanagement, Ökologie und chemische Sicherheit heißt eines davon, Social Entrepreneurship ein anderes. Besonders stolz ist Nagornyak auf das Programm „Wiederherstellung der Ukraine nach dem Krieg“, an dessen Entwicklung die Bürgermeister der vom Krieg stark getroffenen Städte Mariupol, Irpin und Bucha beteiligt waren. Nagornyak: „Wir machen einfach weiter. Wir unterrichten weiter, weil Bildung der Motor für demo- kratische Veränderungen ist.“ //


ZUR ENTSTEHUNG DIESER REPORTAGE
Annick Eimer, Jahrgang 1975, ist Journalistin für Wissenschafts- und Hochschulthemen und Pauschalistin bei der DUZ. Sie reiste für diesen Beitrag Ende September nach Kyiv und Winnyzja. Zu diesem Zeitpunkt gab es kaum Luftangriffe in der Zentral-Ukraine. Sie ist mit der Frage, wie überhaupt im Krieg ein Alltag an den Universitäten möglich ist, angetreten. Sie war beeindruckt von den Menschen, die sie getroffen hat, von ihrem Willen, nicht nur dem Angriff Russlands zu trotzen, sondern ungeachtet des Krieges im Land, die Reformen in der Hochschul- und Forschungslandschaft voranzutreiben.

Lisa Bukreyeva, Jahrgang 1993, ist Fotografin in Kyiv. Sie reiste Ende Oktober nach Winnyzja, um ihre Eindrücke von der Wassyl-Stus-Universität Donezk fotografisch festzuhalten. Als sie die Reise antrat, gab es seit einigen Tagen täglich Angriffe durch die russische Armee. Sie fuhr mit dem Auto nach Winnyzja und vermied den morgendlichen Berufsverkehr, weil der immer wieder Zielscheibe der russischen Drohnen-Angriffe war. Sie sagt: „Ich hatte keine Vorstellung davon, was es bedeutet, ein besetztes Gebiet zu verlassen und eine ganze Universität und ihre Geschichte mitzunehmen und in die Zukunft zu tragen. Aber hier geht es in erster Linie um Menschen, nicht um Gebäude oder Territorien. Ich bin wirklich froh, dass diese Menschen diesen Schritt gewagt haben und die Uni trotz allem noch existiert.“

The Russian war of aggression is making everyday life at Ukrainian universities more difficult. Nevertheless, there is a spirit of optimism. Also because there are people like Rector Tetyana Nagornyak who firmly believe that the future of the country lies in universities. A local report from Kyiv and Vinnytsia.

Erschienen in / published in

DUZ – Magazin für Wissenschaft und Gesellschaft, 11/2022